Während Donald Trump erneut gegen Europas Digitalgesetze wetterte, die er als Zensur abtut, deutet der Tod eines französischen Streamers auf das gegenteilige Problem hin: Das als Schutzschild gegen Online-Gefahren gedachte Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) erwies sich in der Praxis als zahnlos.
Frankreichs Regulierungsbehörden konnten die Plattform Kick – mit Sitz in Australien, laut Behörden ohne rechtlichen Vertreter in Europa bis zum Vorfall – nicht daran hindern, den langsamen, qualvollen Niedergang des Streamers Raphaël Graven zu übertragen. Sein Tod sorgte international für Schlagzeilen und in Paris für Forderungen nach strengeren Regeln.
Die Staatsanwaltschaft leitete am Dienstag ein Strafverfahren gegen Kick ein. Untersucht wird, ob die Plattform gegen die DSA-Pflicht verstoßen hat, lebensbedrohliche Risiken den Behörden zu melden. Digitalministerin Clara Chappaz kündigte zudem eine Klage an.
Der Fall bringt das DSA erneut in die Kritik. Das Gesetz, gedacht als Werkzeug für ein sichereres Internet, teilt die Durchsetzung auf: Nationale Regulierer - im Falle Deutschlands die Bundesnetzagentur - überwachen kleinere Plattformen wie Kick, die EU-Kommission ist für die Tech-Giganten mit über 45 Millionen Nutzern – darunter Meta und Apple – zuständig. In der Praxis zögern beide Ebenen.
Rund 18 Monate nach Inkrafttreten gibt es noch kein einziges Bußgeld für Verstöße gegen die Moderationspflichten. Das große Testverfahren der Kommission gegen Elon Musks X zieht sich seit über einem Jahr hin.
Von einem Scheitern des DSA zu sprechen, wäre jedoch voreilig. Die Durchsetzung ist komplex, viele Vorschriften sind schwammig. Ohne Rechtsprechung müssen Regulierer improvisieren – während das Internet mit neuen Risiken wie KI-Desinformation längst davongaloppiert.
Die Kommission agiert vorsichtig: Jede Entscheidung könnte Präzedenzwirkung haben und festlegen, wie weit Plattformen künftig gehen müssen, um Gefahren einzudämmen.
Von einer Bedrohung der Meinungsfreiheit – wie es US-Vizepräsident J.D. Vance im Februar bei der Münchner Sicherheitskonferenz behauptete – kann derzeit keine Rede sein. Das Gesetz wirkt eher kraftlos. Doch Trumps jüngste Zoll-Drohungen gegen Länder mit „digitalen Steuern, Gesetzen oder Vorschriften“ riefen in Brüssel wie gewohnt Abwehrreflexe hervor.
EU-Abgeordnete der demokratischen Mitte verteidigten das DSA als „nicht verhandelbar“. Einige forderten sogar den Einsatz des Anti-Erpressungs-Instruments der EU. Die Kommission bekräftigte, digitale Regeln seien kein Teil des neuen Handelsabkommens.
Einige Stimmen geben Schwächen zu. Der französische EU-Abgeordnete Pierre-Marie Vedrenne räumte im Gespräch mit Euractiv ein, das Gesetz sei „nicht perfekt“. Man wisse, „dass wir nicht nur neue Gesetze brauchen, sondern auch bessere Durchsetzung, um der Kommission mehr Werkzeuge zu geben“.
Im Gegensatz dazu hat das Schwester-Gesetz, der Digital Markets Act, bereits US-Konzerne wie Apple und Meta mit Strafen belegt – allerdings wegen Wettbewerbsverstößen, nicht wegen Inhalten.
Unterdessen wirkt Brüssel zögerlich. Die deutsche Grünen-Abgeordnete Alexandra Geese kritisierte auf LinkedIn, dass EU-Tech-Kommissarin Henna Virkkunen nach Trumps Angriff nur ein Instagram-Selfie mit ihrem Hund zum Welthundetag gepostet habe. „Es wäre sehr zu begrüßen, wenn die Exekutiv-Vizepräsidentin für technologische Souveränität anfangen würde, für die europäische Demokratie zu kämpfen“, schrieb Geese. „Fangen Sie damit an!“
Und schon kündigt sich die nächste Herausforderung an:
Mit der wachsenden Verbreitung von KI entwickeln Nutzer emotionale Bindungen zu Chatbots. Europas Regulierungsrahmen kennt bislang keine klaren Grenzen dafür, wie weit solche Systeme gehen dürfen, um Menschen durch Intimität an sich zu binden, berichtet mein Kollege Maximilian Henning.
Diplomatischer Streit zwischen Paris und Tel Aviv eskaliert
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat seine Kritik an Benjamin Netanyahu verschärft. In einem Brief, den auch Le Monde erhielt, forderte er den israelischen Premier auf, seinen „tödlicher und illegaler Rücksichtloser Vorstoß in einen dauerhaften Krieg in Gaza“ zu beenden.
Netanyahu hatte Macron zuvor vorgeworfen, mit seiner Forderung nach Anerkennung eines Palästinenserstaates Antisemitismus zu schüren. Macron wies den Vorwurf als „Beleidigung Frankreichs“ zurück, verteidigte die Bilanz seiner Regierung im Kampf gegen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden und nannte die Anerkennung Palästinas – abhängig von einer Kapitulation der Hamas – den einzigen Weg aus der Gewaltspirale.
Auch andere EU-Staaten gehen auf Distanz zu Netanyahu. Dänemarks Ministerpräsident Mette Frederiksen nannte ihn kürzlich ein „Problem an sich“ und zeigte sich offen für eine Anerkennung Palästinas, falls dieses demokratisch sei. Sie wolle während der dänischen EU-Ratspräsidentschaft Druck auf Israel ausüben.
In Belgien streitet die Koalition: Premier Bart De Wever lehnte am Dienstag den Vorstoß von Außenminister Maxime Prévot ab, Palästina anzuerkennen. Prévot drohte daraufhin, die Arbeit der Regierung zu blockieren und so eine politische Krise auszulösen, falls der Druck gegenüber Israel nicht erhöht würde.
Belgien und Deutschland bremsen bei eingefrorenen Russland-Geldern
Belgiens Premier Bart De Wever und Bundeskanzler Friedrich Merz warnten vor einer Beschlagnahme eingefrorener russischer Vermögen.
Bei einer Pressekonferenz in Berlin sagte De Wever, die bei Euroclear geparkten Milliarden sollten vorerst unberührt bleiben. „Rechtlich ist das nicht so einfach“, betonte er. Das Geld könnte bei künftigen Ukraine–Russland-Verhandlungen nützlich sein. Merz verwies zudem auf mögliche Risiken für die Finanzmärkte, falls Zentralbankreserven angetastet würden.
Bei Euroclear liegen über 180 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Vermögen – sowohl staatlich als auch privat – seit dem EU-Beschluss nach der russischen Invasion 2022.
„Wir sollten diese Staatsgelder blockiert halten“, so De Wever. Überstürzte Schritte könnten andere Länder verunsichern und zum Abzug ihrer Reserven bewegen. Die Gelder seien wie „eine Gans, die goldene Eier legt“ – vielleicht für Friedensgespräche nützlich, bis dahin sei jedoch „Vorsicht geboten“.
EU verlangt Aufklärung nach Beschuss von NGO-Schiff durch Libyen
Die EU-Kommission fordert Aufklärung von Libyen, nachdem ein Küstenwachboot das Rettungsschiff Ocean Viking in internationalen Gewässern unter Beschuss nahm. Über Konsequenzen schwieg Brüssel jedoch und betonte, es gehe zunächst um „Faktenklärung“.
Hunderte Schüsse trafen am Sonntag das Schiff der deutschen NGO SOS Méditerranée, das schwer beschädigt wurde. Crew und Gerettete blieben unverletzt. Die NGO forderte eine umfassende Untersuchung und verwies darauf, dass dies nicht der erste Vorfall war: Bereits im Juli 2023 wurde eines ihrer Boote beschossen. EU-Migrationskommissar Magnus Brunner nannte die libyschen Behörden damals „dubios“, hielt aber am Dialog mit Tripolis fest.